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Wie ATMP die Life-Sciences-Industrie revolutionieren

Arzneimittel für neuartige Therapien (Advanced Therapy Medicinal Products, ATMP) verändern die Life-Science-Industrie grundlegend. Die Herstellung, der Vertrieb und die Verabreichung dieser neuartigen Therapien erfordern neue Ansätze.

 

Es ist eine Tatsache, dass Zell- und Gentherapien (CGT) – auch bekannt als Arzneimittel für neuartige Therapien (ATMP) – heute einen grösseren Anteil haben als noch vor zwei oder gar fünf Jahren. Es ist auch richtig, dass der Anteil dieser Therapien deutlich steigen wird, da derzeit Hunderte von klinischen Studien in der Schlussphase laufen und damit zu rechnen ist, dass die Zahl der zugelassenen Therapien in den nächsten Jahren weiter steigen wird. Wir stehen am Anfang einer neuen Ära der Medizintechnik, in der eine Reihe von bisher unheilbaren Krankheiten therapiert werden könnten.

Die Zahlen sind beeindruckend. Die Alliance for Regenerative Medicine, einer der führenden Fachverbände in diesem Bereich, bezifferte die Investitionen in diesem Bereich im Jahr 2021 auf 23,1 Milliarden US-Dollar – 16 % mehr als im Vorjahr. Mehr als 1.000 Unternehmen sind weltweit tätig. Und darin sind die Tausenden von wissenschaftlichen Forschern, die neue Zelllinien, neue genetische Verfahren und Ähnliches erforschen, noch nicht enthalten. Derzeit werden über 2.200 klinische Studien durchgeführt, von denen sich 216 in Phase III befinden. Die FDA rechnet in den nächsten Jahren mit zehn bis zwanzig neu zugelassenen Therapien pro Jahr, was ungefähr einem Drittel aller Zulassungen für neue molekulare Wirkstoffe entspricht.

Hinter diesen atemberaubenden Zahlen verbirgt sich ein rasanter Wettlauf, bei dem es darum geht, mit der neuen Wissenschaft und den neuesten Erkenntnissen Schritt zu halten. Begonnen hat dieser Wettlauf zweifellos mit dem Abschluss des Humangenomprojekts um das Jahr 2000 herum. In den letzten Jahren haben Technologien wie CAR-T (chimäre Antigenrezeptoren-T-Zellen) und CRISPER (Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats) neue Wege für die Identifizierung, Anpassung und den Einsatz der Therapien eröffnet.

Neben der Molekulargenetik und der Zellmechanik gibt es zwei wichtige Aspekte, die man berücksichtigen muss, sollen diese Wundertherapien zu den Patienten gelangen. Erstens handelt es sich grösstenteils um lebende Zellen, manchmal auch um Viren. Zweitens muss die Temperatur dieser lebenden Materie, die sich oft im kryogenen Bereich befindet, genau kontrolliert werden, um deren Lebensfähigkeit und Wirksamkeit zu erhalten. Während Sie diesen Artikel lesen, entsteht gerade eine neue Infrastruktur zur Überwachung und Aufzeichnung der notwendigen Lager- und Transportbedingungen.

Einige Definitionen

Lassen Sie uns erst verstehen, was es mit diesen neuen Therapien auf sich hat und welche Herausforderungen sie für die Industrie und das Gesundheitswesen darstellen. In den 1990er Jahren wurde in den USA das Konzept der «regenerativen Medizin», die Wiederherstellung oder das Wachstum von Körperorganen mit lebendem Gewebe, zu einem Thema intensiver klinischer Forschung. Parallel dazu eröffnete 1998 die Isolierung embryonaler Stammzellen die Möglichkeit, menschliche Zellen für therapeutische Anwendungen zu nutzen. Diese und andere Entdeckungen führten zu der heutigen Klassifizierung von CGT. (Die Alliance for Regenerative Medicine deckt den Bereich der CGT umfassend ab, beinhaltet darüber hinaus aber auch den Begriff «Tissue Engineering» (Gewebezucht), der auf die «regenerative» Dimension dieser Wissenschaft verweist).

In Europa und in anderen Ländern wurde der Begriff ATMP entwickelt, um CGT, regenerative Medizin und andere neue Entwicklungen abzudecken. In der Zwischenzeit hat die FDA im Rahmen des 21st Century Cures Act von 2016 die Bezeichnung RMAT (Regenerative Medicine Advanced Therapy) eingeführt. Alle diese Bezeichnungen sind wichtig, weil in den USA und in anderen Ländern regulatorische Verfahren und Prüfverfahren speziell für diese Therapien eingeführt wurden. Einige der Vorschriften ermöglichen ein beschleunigtes Prüf- und Zulassungsverfahren, das nur für RMAT- oder ATMP-Produkte vorgesehen ist. Alle Vorschriften verlangen umfangreiche Tests zur Beurteilung der Reinheit und Wirksamkeit, nicht nur des Endprodukts, sondern auch der Ausgangsmaterialien wie Zellen und Viren.

Industrienormen bilden den operativen Teil einer Verordnung. Es wird eine Kombination aus verbindlichen und freiwilligen Normen entwickelt, die ihrerseits von den Aufsichtsbehörden überwacht werden. Hierbei Schritt zu halten, ist für die Behörden eine grosse Herausforderung. Im Jahr 2017 beauftragte die FDA den Standards Coordinating Body for Regenerative Medicine (SCB) mit der Aufgabe, eine Vielzahl weiterer Regelsteller (standard setters) zusammenzubringen, um gemeinsame Vorgehensweisen festzulegen.

«Standardsetting ist ein fortwährender Prozess, ein ständiges Hin und Her. Eine neue Forschungsmethode entsteht und eine neue Standardpraxis wird vorgeschlagen, noch während die klinische Entwicklung läuft. »

Im vergangenen Jahr hat die Alliance for Regenerative Medicine das Projekt «A-Gene» ins Leben gerufen. Es handelt sich um eine «Zusammenarbeit mehrerer Interessengruppen zur Einbeziehung von Quality by Design (QbD)-Prinzipien in eine Fallstudie zur Herstellung eines viralen Vektors, der häufig bei Gentherapien verwendet wird». Das Projekt schliesst sich an frühere ähnliche Projekte an (A-Mab und A-Vax), die darauf abzielten, gemeinsame Qualitätsverfahren für die Produktion von monoklonalen Antikörpern bzw. Impfstoffen zu entwickeln. «In dem Moment als die Entwickler versuchten, von der Herstellung kleiner Chargen für klinische Versuche zur kommerziellen Produktion in großem Maßstab überzugehen, war jede dieser Technologien mit ähnlichen Schwierigkeiten konfrontiert», so die Alliance.

Speziell für die Lieferkette von ATMP hat die Internationale Organisation für Normung (ISO) die Norm ISO 21973:2020 - Biotechnology -- General requirements for transportation of cells for therapeutic herausgegeben. «Zu den Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Transport von Zellen ... gehören die Überwachung und Kontrolle der Transportbedingungen, die Rückverfolgbarkeit und die Wahrung des Chain of Custody sowie die Definition klarer Erwartungen und Kommunikationswege zwischen Zellprodukthersteller und Transportdienstleister. » (Der aktuelle Text kann auf iso.org erworben werden.)

Cryoport, ein führender Anbieter von Lieferkettenlösungen für die Life-Sciences-Branche, bezeichnet die ISO 21973 als einen «Sprung nach vorn» für die Branche und stellt fest: «In einem globalen Umfeld variieren die Spezifikationen und die Sorgfalt bei der Verpackung und dem Transport dieser Therapien erheblich, was zu hohen Risiken und dem potenziellen Verlust von unersetzlichen Therapien führt.»

Vene zu Vene

Es gibt fast so viele unterschiedliche Verfahren zur Verabreichung einer ATMP-Therapie wie Therapien selbst. Das vielleicht anschaulichste Beispiel für Herausforderungen bei ATMP sind autologe Zelltherapien (ACT), von denen inzwischen etwa ein Dutzend auf dem Markt sind. Bei diesen Therapien beginnt der Prozess mit der Entnahme von patienteneigenen Zellen (in der Regel T-Zellen) durch Apherese und der anschliessenden Weiterleitung der Zellen an ein Labor oder eine Produktionsanlage, wo die Zellen genetisch behandelt oder verändert und «erweitert» (gezüchtet) werden. Anschliessend werden die Zellen, die in der Regel unter kryogenen Bedingungen gelagert werden, zur Infusion an die Einrichtung zurückgeschickt, in der sich der Patient befindet. Es handelt sich hierbei um genannte «Vene zu Vene»-Therapie (vein-to-vein). Der Prozessschritt der Infusion muss sorgfältig überwacht werden, da er für den Patienten lebensbedrohlich sein kann. Der Herstellungsprozess kann mehrere Wochen dauern, aber die Zellen haben eine begrenzte Haltbarkeit, so dass der gesamte Prozess verfolgt und genau überwacht wird. (Ein nicht trivialer Teil dieser Überwachung besteht darin sicherzustellen, dass die richtigen Zellen dem richtigen Patienten verabreicht werden.)

Ein gutes Beispiel für die Umsetzung dieses Prozesses zeigt sich in Großbritannien, wo das «Cell and Gene Therapy Catapult»-Programm (CGT Catapult) ins Leben gerufen wurde. Es soll die Zusammenarbeit zwischen der britischen Regierung, dem britischen Gesundheitssystem und einer Reihe von Herstellern, Lieferanten und Dienstleistern fördern. Das Ziel ist ehrgeizig: Großbritannien soll zu einem führenden Standort für die Entwicklung und Produktion von ATMP werden. Zu diesem Zweck verfügt Catapult über mehrere eigene Einrichtungen, wirbt in der Privatwirtschaft um Investitionen und kommerzielle Weiterentwicklung, koordiniert die Forschung und die Ausbildung von Fachkräften an einer Reihe von Bildungseinrichtungen und bietet politische Beratung bei der Vermarktung von ATMP. Wissenschaftler können zusammen mit Sponsoren aus der Industrie an einem ATMP arbeiten, Versuche in von Catapult koordinierten Gesundheitseinrichtungen durchführt und anschliessend ausgebildete Arbeitskräfte einstellt, die aus dem Catapult-Programm kommen. Das beschleunigt den gesamten Prozess enorm.

Vor einigen Jahren hat Thermo Fisher Scientific sein britisches CryoHub, eine Einrichtung für Lagerung, Distribution und Logistik klinischer Studien, mit einer Catapult-Einrichtung zusammengelegt. «Die erfolgreiche Durchführung industriegeführter Versuche in diesem innovativen Forschungsbereich hängt von der Schaffung einer robusten, zuverlässigen Lieferkette für die wichtigsten Bestandteile ab: die Zellen selbst», erklärte der damalige CEO von Cell and Gene Therapy Catapult, Keith Thompson.

In den USA werden derartige Aktivitäten in der Regel von den Behörden für Wirtschaftsförderung der jeweiligen Bundesstaaten initiiert. Zum Teil sind sie aber auch dort angesiedelt, wo sich führende Forschungszentren befinden. San Francisco, Boston und Philadelphia sind repräsentativ für diese Bemühungen, indem sie Vorreiter-Unternehmen im Bereich der Zell- und Gentherapie und damit weitere Akteure anziehen.

One-stop-Shopping

In den Anfängen der ATMP-Entwicklung begannen die Projekte mit einem Wissenschaftler, seinem Labor und einem nahegelegenen Krankenhaus, in dem qualifizierte Patienten getestet werden konnten. Heute, da die kommerziellen Aktivitäten ein grösseres Volumen erreichen, umfasst die ATMP-Logistik mehrere Standorte und erfordert eine sorgfältige Koordinierung der Dienstleister, die das wertvolle Zellmaterial zu und von den Krankenhäusern transportieren. (Es wurde auch überlegt, «Point of Care»-Zellmanipulation in den Forschungskrankenhäusern selbst zu entwickeln, aber dieser Versuch scheint zu scheitern.)

In jüngster Zeit bemühen sich verschiedenen Life-Sciences-Dienstleister wie Auftragsforschungsinstitute, Auftragshersteller, Logistikdienstleister und spezialisierte Verpackungsunternehmen darum, so viele Dienstleistungen wie möglich aus einer Hand zu bieten. Auftragsforschungsunternehmen wie Thermo Fisher Scientific, Catalent und   haben ergänzende Dienstleistungen aufgebaut oder zugekauft. 2017 zahlte Thermo Fisher Scientific beispielsweise 7,2 Milliarden US-Dollar für die Übernahme von Patheon, einem führenden Auftragshersteller. Kürzlich hat Cryoport, das vor Jahren mit der Herstellung von speziellen Dewar-Gefässen für den Ultrakaltversand begonnen hat, einen Dewar-Hersteller und mehrere Unternehmen für die klinische Lieferkette übernommen. BioLife Solutions, das zunächst Lösungen für die Kryo-Konservierung anbot, hat einen Lieferanten für Behälter und einen Hersteller von Tiefkühlschränken übernommen. Diese Konsolidierung wird sich sicherlich fortsetzen.

Für die Erfassung und Aufzeichnung von Umgebungsbedingungen integrieren zahlreiche Anbieter von temperaturkontrollierten Verpackungslösungen inzwischen Datenlogger und Sensoren in ihre Behälter. Envirotainer und CSafe, Anbieter von aktiven Luftfrachtbehältern, tun dies schon seit einiger Zeit und verknüpfen diese Datenlogger mit einem Portal, über das Kunden nahezu in Echtzeit darauf zugreifen können. Zahlreiche Anbieter von passiven Containern bieten ähnliche Dienste an. ELPRO, Anbieter von umfassenden Überwachungslösungen, Datenloggern, Analysesoftware und Sensoren für den Life-Science-Bereich, kombiniert seine Möglichkeiten während des Transports mit denen zur Überwachung von Labors oder Lagereinrichtungen und bietet so die Möglichkeit, eine Sendung vom Herstellungsort bis zum Bestimmungsort sowie allen Zwischenstationen zu verfolgen. Mit der kürzlich erfolgten Übernahme durch Bosch Service Solutions, einem großen Anbieter von Industriedienstleistungen, ist geplant, den 24/7-Überwachungsdienst von Bosch (der z. B. von einigen grossen Automobilherstellern und Herstellern von Aufzügen für ihren Kundensupport genutzt wird) in das ELPRO-Netzwerk zu integrieren.

Eine entsprechende Entwicklung vollzieht sich im IT-Bereich. Viele Dienstleister bieten Softwaresysteme zur Sendungsverfolgung und zur Aufzeichnung der Umgebungsbedingungen dieser Sendungen an. (Hier ist anzumerken, dass nicht nur die Temperatur, sondern auch Luftfeuchtigkeit, Luftdruck und Erschütterungen während des Transports und der Lagerung wertvolle Datenpunkte darstellen.) Zwei Unternehmen – TrakCel und Vineti – haben sich in den letzten Jahren zu Softwareanbietern von «Orchestration Services» entwickelt, die Daten sammeln von Patienten (sowie allen Tests, die für deren Diagnose durchgeführt werden), von der Apherese oder ähnlichen Zellextraktionen, von den Herstellungsschritten und von der Lieferung an den Patienten. Industrienormen wie die ISO 21973 machen deutlich, dass umfassende Datenerfassung und Datendokumentation die Grundlage für Fortschritte im Bereich der ATMP sind.

Autor

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Nicholas Basta
Gründer von Pharmaceutical Commerce

Er ist Journalist und Berater für Biowissenschaften und Wirtschaft sowie Gründer und ehemalige Chefredakteur des Print- und Online-Magazins Pharmaceutical Commerce.

 

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