Innerhalb der Kühlkette: Die Neudefinition des pharmazeutischen Vertriebs
Chris Anderson
Director of Quality Management, Cardinal Health
Der nachfolgende Blog Post ist eine Zusammenfassung der Präsentation von Chris Anderson zum Thema Pharma Industry Update 2025 Q2 beim Leading Minds Network Seminar in Boston.
Auf den ersten Blick mag ein kleines Fläschchen mit Medikamenten in einem Lieferwagen unscheinbar wirken. Doch hinter diesem kleinen Paket steckt ein komplexes, hochsensibles System – eines, das Chris Anderson seine gesamte Karriere damit verbracht hat, sicherer, intelligenter und effizienter zu machen.
Als Experte für Qualitätssysteme und Temperaturmanagement bei Cardinal Health und als Schlüsselperson im „Packaging and Distribution Expert Committee“ der United States Pharmacopeia (USP) hat Anderson einen direkten Einblick in die sich wandelnden Herausforderungen der pharmazeutischen Kühlkettenlogistik. Beim Leading Minds Network Seminar 2025 in Boston gewährte er einen seltenen Blick hinter die Kulissen dieses oft unterschätzten Teils des Gesundheitswesens – und rief Fachleute aus Pharma, Life Sciences, Gesundheitswesen und Logistik zum Handeln auf.
„Warum sitzt der Vertrieb nicht mit am Tisch?“
Als Anderson vor über zehn Jahren zur USP stiess, fiel ihm sofort auf, dass Vertriebsfachleute bei wichtigen Diskussionen fehlten.
„Ihr schreibt Richtlinien, die den Vertrieb betreffen“, sagte er damals bei einem seiner ersten Ausschusstreffen. „Aber ihr macht das für die 10 % der Produkte, die direkt vom Hersteller zur Apotheke gehen – nicht für die 90 %, die über Großhändler wie uns laufen.“
Diese 90 % machen einen enormen Anteil der Pharmawirtschaft aus – allein 814 Milliarden US-Dollar im Jahr 2024. Und innerhalb dieses Bereichs wachsen die Kühlkettenprodukte rasant. Vier der fünf umsatzstärksten Medikamente in den USA müssen bei 2–8 °C gelagert werden. Dennoch, so Anderson, spiegeln viele Richtlinien und Standards immer noch nicht die Größe, Geschwindigkeit und Komplexität des Vertriebssektors wider.
Versandhandel oder Risiko?
Eine seiner provokanteren Fragen lautete: „Würden Sie Ihre Medikamente dem Versandhandel anvertrauen?“
Der Grund zur Sorge: fehlende Transparenz bei Temperaturschwankungen während der letzten Liefermeile. Medikamente können stundenlang in heissen Briefkästen oder auf kalten Veranden liegen – Bedingungen, die Wirksamkeit und Sicherheit gefährden können. Trotzdem macht der Versandhandel mittlerweile 28 % aller verschreibungspflichtigen Verkäufe in den USA aus.
Anderson sieht hier dringenden Handlungsbedarf, besonders bei temperaturempfindlichen Arzneimitteln: „Es ist nicht so, dass das Modell nicht funktionieren könnte. Aber im Moment fehlt es einfach an einer einheitlichen Temperaturkontrolle – und deren Überwachung.“
Eine neue Ära der Standards
Ein grosser Teil von Andersons Vortrag drehte sich um die Weiterentwicklung der USP-Leitlinien, insbesondere der allgemeinen Kapitel <659> und <1079>, die das Rückgrat der Regulierung für Temperaturkontrolle, Lagerung und Vertrieb von Arzneimitteln bilden.
Zu den wichtigsten Änderungen zählen:
- USP <659> wird überarbeitet: Die Definition von kontrollierter Raumtemperatur wird von 20–25 °C auf 15–25 °C erweitert – im Einklang mit der europäischen und japanischen Pharmakopöe. Das könnte die Energiekosten in der Lieferkette senken.
- USP <1079.2> beschreibt, wie die mittlere kinetische Temperatur (MKT) zur Bewertung kurzfristiger Temperaturschwankungen genutzt werden kann. Anderson betonte, dass MKT-Daten sorgfältig eingesetzt werden müssen – nicht, um tägliche Abweichungen zu ignorieren, sondern um fundierte, wissenschaftlich basierte Entscheidungen zu treffen.
- USP <1079.5> (bald erwartet) wird detaillierte Leitlinien zur Qualifizierung von Transportwegen („Lane Qualification“) liefern – die Validierung von Routen basierend auf Umweltbedingungen und Transportzeiten.
Diese Updates sind das Ergebnis jahrelanger Zusammenarbeit, inklusive umfangreicher Rückmeldungen von der FDA, internationalen Partnern und Arbeitsgruppen wie ANVISA in Brasilien. „Wir schreiben [Leitlinien] nicht im luftleeren Raum“, so Anderson. „Wir entwickeln sie gemeinsam mit Wissenschaftlern aus aller Welt.“
Das Unvermeidliche managen
Temperaturabweichungen sind im Pharmalogistik-Alltag unvermeidlich. Kuriere verpassen Übergaben. Flüge verspäten sich. Trailer überhitzen. Die Frage ist nicht, ob Abweichungen passieren – sondern wie Unternehmen reagieren, wenn es passiert.
Bei Cardinal Health bearbeitet Andersons Team jährlich Hunderte solcher Vorfälle. Jeder kann Dutzende Produkte und Hersteller betreffen und erfordert ein komplexes Geflecht aus Telefonaten, Datenanalysen und Risikobewertungen.
„Wir kontaktieren die Hersteller, prüfen deren Stabilitätsdaten und bewerten das Risiko“, erklärt er. „Aber das kostet Zeit – und manchmal bekommen wir nur die pauschale Antwort: ‚Nicht zur Verwendung empfohlen.‘ Selbst wenn es nur eine Stunde lang um ein Grad zu warm war.“
Hier sieht Anderson grosses Potenzial in Technologie: Künstliche Intelligenz und thermische Modellierung – die Simulation der Innentemperatur eines Pakets anhand der äusseren Bedingungen – könnten entscheidend werden. „Wir können es uns nicht leisten, Millionenwerte an Produkten wegzuwerfen, die vielleicht noch verwendbar sind. Thermische Modellierung hilft uns, schneller und klüger zu entscheiden.“
Routenqualifizierung statt Real-Time Überwachung
Bei über 150 Millionen Sendungen pro Jahr ist es für Cardinal Health nicht machbar, jedes einzelne Paket in Echtzeit zu überwachen. Stattdessen setzt das Unternehmen auf Lane Mapping – die Kategorisierung von Versandrouten nach Risiko, Jahreszeit und Geografie.
„Wenn die Route qualifiziert ist, muss man nicht jede Sendung überwachen“, so Anderson. „Man kennt die Bedingungen, hat den Worst Case getestet und Vertrauen in den Prozess.“
Die bald erscheinende USP <1079.5> wird dieses Konzept formalisieren und wissenschaftlich fundierte Kriterien für die Routenqualifizierung liefern. Auch Organisationen wie die Healthcare Distribution Alliance (HDA) oder die International Safe Transit Association (ISTA) sehen Lane Mapping als Best Practice – gerade für Grosshändler mit niedrigen Margen.
Gewinnspannen, Verpackung und Realität
Die Gewinnmargen von Grosshändlern liegen bei etwa 1–2 %. Selbst kleine Änderungen – wie ein Dollar mehr für Verpackungsmaterial – können erhebliche Auswirkungen haben.
Wiederverwendbare Verpackungen sind zwar umweltfreundlich, bringen aber auch Herausforderungen mit sich. „Wenn es Kosten oder Komplexität erhöht, muss es gerechtfertigt sein“, sagt Anderson. „Darum investieren wir in thermische Modellierung und Qualifizierung, statt einfach teure neue Boxen zu kaufen.“
Ein Beispiel: Die Zusammenarbeit mit einem Verpackungshersteller zur Entwicklung eines pflanzenbasierten Phasenwechselmaterials für Transportboxen dauerte drei Jahre.
Später simulierte man die Leistung per thermischer Modellierung – das Modell lag nur um 0,6 °C neben den realen Messwerten.
„Das ist die Genauigkeit, die wir brauchen“, so Anderson.
Ein Ruf nach Klarheit
Ein wiederkehrendes Ärgernis für Anderson und seine Kollegen ist uneinheitliche Produktkennzeichnung. „Wir sehen alles – von ‚unter 77 °F lagern‘ bis ‚zwischen 8 und 25 °C lagern‘ – ohne Bezug zu USP-Standards. Das ist ein Problem.“
Ohne klare Vorgaben müssen Distributoren raten – oder Lieferungen ablehnen. Manche Hersteller ändern sogar die Lageranforderungen je nach Wirkstärke, was Apotheken und Patienten zusätzlich verwirrt.
„Wir verlangen keine Wunder“, sagt Anderson. „Einfach eine Kategorie wählen – gefroren, gekühlt oder kontrollierte Raumtemperatur – und Daten zu Temperaturabweichungen bereitstellen. So halten wir den Warenfluss sicher am Laufen.“
Ausblick: Daten, Dialog und Disruption
Zum Schluss betonte Anderson, dass die Zukunft des pharmazeutischen Vertriebs nicht nur von neuer Technologie abhängt – sondern von Zusammenarbeit.
Er lobte Organisationen wie ISTA und HDA, die frei zugängliche Whitepapers mit Best Practices veröffentlichen, und hob die USP-Projekte mit APEC-Staaten zur Entwicklung von Werkzeugkits für Schwellenländer hervor.
Seine wichtigste Botschaft jedoch: Distributoren, Hersteller und Aufsichtsbehörden müssen offener kommunizieren, Daten freier teilen und sich konsequenter abstimmen, um den wachsenden Anforderungen der globalen pharmazeutischen Versorgung gerecht zu werden.
„Es geht hier nicht nur um Compliance“, so Anderson. „Es geht darum, die Gesundheit der Patienten zu schützen. Wenn die Kühlkette zusammenbricht, leiden Menschen. Und das kann sich keiner von uns leisten.“
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